Eine Frühsommertags-Chronik der Widersprüche

Mitteldeutschland, ein ganz normaler Frühsommertag. 17 Grad, strömender Regen. Ich muss mit dem Rad einige Kilometer nach Hause fahren. Trotz Regenjacke und -hose komme ich dort triefend und leicht fröstelnd an, nass bis auf die Unterwäsche. Ich fische einen Brief aus dem Briefkasten, der ebenfalls vom Regen sich etwas klamm anfühlt. Ich dusche warm, ziehe mir trockene, bequeme Klamotten an lehne mich auf der Couch zurück. Dann öffne ich den Brief. Er ist mit echter Tinte geschrieben, die eng beschriebenen Zeilen haben den Regen überlebt. So einen handgeschriebenen Brief habe ich lange nicht erhalten. Jemand antwortet mir heute mal schriftlich auf die Frage „Wie geht es dir? Geht es euch gut?“. Und er schreibt: „Ja – ist meine erste Reaktion. […] Ach und eigentlich geht es auch überhaupt nicht gut.“ Ich lese von gesundem, fröhlichen Nachwuchs, von Alltagsschönheiten wie Brot backen und herzlicher Gemeinschaft mit Nachbarn, aber auch von der Arbeitslosigkeit, der Suche nach einem neuen Job und der Unsicherheit, was die Zukunft, was den eigenen Weg und die Perspektiven angeht.

Der selbe Tag, am Nachmittag, es ist strahlender Sonnenschein, 27 Grad. Vom heftigen Regenschauer des Morgens zeugen nur noch ein paar kleine Pfützen und wenige Wolken am Himmel. Eine kurze Wartezeit beim Dönermann meines Vertrauens überbrücke ich, indem ich die Augen schließe und mir das Gesicht von der Sonne streicheln lasse. Ich singe die erste Strophe von Amazing Grace vor mich hin und muss unverhofft lächeln. Als ich wieder mit dem Rad nach Hause fahre, rieche ich frischen Holunder und Rosen. Beide haben beim Regen am Morgen ein paar ihrer Blüten auf dem Boden gelassen.

Ich muss an die Zeilen aus dem Brief denken – mir geht es gut, und mir geht es nicht gut, beides fast zugleich. An diesen Frühsommertag mit grauem Himmel und mitreißendem Regen, und mit warmen Sonnenstrahlen und Blütenduft. Am Morgen, als der Himmel so verschlossen war, hätte ich mir nicht träumen können, dass dieser Tag noch so schön endet. Meine Regenjacke habe ich umsonst den ganzen Tag mitgeschleppt.

Ich denke daran, was ich in diesem Jahr schon für Glücksmomente erleben durfte, von Raketenfahrten auf Wolke Sieben über stillen Genuss, Liebe verpackt in Worten oder anderen Kleinigkeiten. Glücksmomente voller grandiosem Staunen bis hin zu bauchschmerzendem Gelächter.
Ich denke auch an die Tränen, ganze Sturzbäche, die ich geweint habe in diesem Jahr, an Verantwortung, die mir den Schlaf raubte, an Gedankenwirbelstürme, an schmerzende Worte, und an platzende Luftballons im Traumzauberland.

Und genauso finde ich die Sonnenstrahlen und die Regengüsse im letzten Jahr, und in dem davor und dem davor. Mein Leben steckt voller Gegensätzlichkeiten. Widersprüche des Seins. Die Ambivalenz, die Gleichzeitigkeit von Schönem wie Schweren, ein „mir geht es gut“ und ein „mir geht es nicht gut“, ist manchmal mehr zur einen, manchmal mehr zur anderen Seite ausgelotet. Oft liegt beides auch sehr nah beinander. Manche Gegensätze kommen nicht nur von außen, wie der Regen und die Sonne, sondern auch aus mir selbst. (Ich bin gern mit Menschen zusammen. Aber manchmal brauche ich Zeit für mich allein. Ich schlafe gerne. Trotzdem geh ich selten so früh ins Bett, wie ich eigentlich will.)
Ich muss sie aushalten, diese Gegensätze, kann sie nicht immer auflösen oder mit Worten erklären. Auf dieser Welt wird es sie auch immer beide geben, die sonnigen wie die stürmischen Tage meines Lebens. Offensichtlich gehören diese Widersprüche auch zum Leben des Freundes, dessen Brief ich heute erhielt. Und ich könnte wetten, auch zu deinem?

Für heute geht der Abend geht zur Neige. Ich schaue in den Himmel und sehe keine Sterne. Dafür den Mond, irgendwo zwischen Neumond und Vollmond. Ich denke an die vom peitschenden Regen und Wind auf den Boden gewehten Rosenblätter und Holunderblüten, die für sich selbst etwas unerwartet Schönes hatten. Diesen Eindruck schreibe ich auf und werfe ihn in mein Dankbarkeitsglas.

[04.06.2017]

2 Gedanken zu “Eine Frühsommertags-Chronik der Widersprüche

  1. Stephanie Jaeckel schreibt:

    Ja, komisch. Mir geht es fast immer gut und schlecht zugleich. Eine lange Zeit dachte ich, das läge an mir. Mittlerweile denke ich, es liegt am Menschsein ganz so an sich und überhaupt. Und: Schön, wenn man so eine Bandbreite noch hinbekommt 😉

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    • the schreibt:

      Ich glaube auch: Es gehört einfach zu unserem Menschsein. Wir lassen es nur nicht immer zu, dass es mehr als eine Seite oder ein Gefühl gibt…
      Liebe Grüße an dich, Stephanie!

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