Erdbeben

Kürzlich
gab es in meinem Kopf
ein Erdbeben
Stärke 8 auf der Richter-Skala.
Noch viel mehr
gebebt
hat mein Herz.
Es hat dabei
völlig aus dem Takt
geblutet.

Zerbrochen und zerfallen
sind Traumgebäude.
Zerrüttet und zerstört
die ganze
Planwirtschaft.

Überall Chaos
kein Gedanke auf
gewohnter Bahn.
Die Nerven blank.
Matschstraßen,
mal Schlitterbahn.
Wie ein Sturzbach
die Tränen.

Es war ein
Donnerstag
der Tag, an dem
der Donner
in meinem Kopf
unter der Oberfläche wütete
und die Erde bebte
den Boden unter meinen Füßen
wegriss
und ein schmerzhafter Blitz
mir mitten ins Herz
einschlug.

Heute ist Montag.
Einige Wochen später.
Ich bin immer noch
am Aufräumen.
Schutter hier, Schotter da.
Große, neue Schneisen
im Wald der Wichtigkeiten.
Immer mal wieder ein
Nachbeben.

Als ich mit viel Kraft
ein paar der Trümmer
zur Seite stemmte
um wieder
atmen
zu können
versiegten langsam
die Tränen
und ich sah:
den Himmel.

Da war jemand
der mit den Sonnenstrahlen
sachte
ganz zärtlich
mein Gesicht streichelte.
Ich spürte
Seinen Geist
in der frischen Luft.

Und dann
habe ich vorsichtig
einen Schritt
in die Luft
gemacht.
Und sie trug!

Ich setzte einen Fuß in die Luft und sie trug.  – Hilde Domin

[22.05.2017]

10 Alltagsvorfreuden

 

  1. Auf dem Heimweg in Gedanken schon den ersten Bissen des frisch gekauften Himbeer-Baiser-Kuchen vom Lieblingsbäcker auf der Zunge zergehen lassen (alternativ das buttrige Schokocroissant).
  2. Auf das Ins-Bett-Kuscheln am Abend (manchmal ist Vorfreude darauf schon früh am Morgen da, wenn das Aufstehen besonders schwer fällt).
  3. Auf das Öffnen eines unverhofften Briefes auf dem Weg vom Briefkasten zur Wohnung.
  4. Auf das Nichts-Tun am Vorabend eines freien Tages, auf die Aussicht, mich ganz frei vom Lesen zum Schreiben oder Leute treffen treiben zu lassen. Manchmal auch auf die konkreten Pläne: Gottesdienst am Sonntagmorgen oder eine Einladung zum fröhlich Feiern.
  5. Auf meine Dusche. Eine warme Dusche an einem Regentag. Oder eine kalte, an einem heißen Tag an dem das Radfahren die Schweißperlen an meinem ganzen Körper zum Glänzen bringt.
  6. Auf den Austausch mit einer guten Freundin an unserem lang im voraus vereinbarten Telefondate.
  7. Auf den frischen Kaffee, wenn ich gerade das kräftig duftende Espressopulver in die Bialetti Brikka Kanne gefüllt habe und nur noch darauf warten muss, dass der Kaffee zischend in die Kanne sprudelt.
  8. Auf die Überraschung, welche Farben und welche Formen da noch kommen werden, wenn ich die ersten klitzekleinen grünen Triebe meiner frisch ausgesäten Sommerblumenwildwiese entdecke.
  9. Auf den Feierabend, wenn ein anstrengender Arbeitstag so schnell verfliegt, dass ich erst kurz vor Schluss auf die Uhr schaue, und der Feierabend dann schon so greifbar ist.
  10. Auf das helle Ding-Dong der Klingel, wenn ich jemanden erwarte. Oder das erste Sich-von-Weitem-Entdecken, wenn ein Zug mit einem lieben Mensch am Bahnhof eingefahren ist.

 

Eine Frühsommertags-Chronik der Widersprüche

Mitteldeutschland, ein ganz normaler Frühsommertag. 17 Grad, strömender Regen. Ich muss mit dem Rad einige Kilometer nach Hause fahren. Trotz Regenjacke und -hose komme ich dort triefend und leicht fröstelnd an, nass bis auf die Unterwäsche. Ich fische einen Brief aus dem Briefkasten, der ebenfalls vom Regen sich etwas klamm anfühlt. Ich dusche warm, ziehe mir trockene, bequeme Klamotten an lehne mich auf der Couch zurück. Dann öffne ich den Brief. Er ist mit echter Tinte geschrieben, die eng beschriebenen Zeilen haben den Regen überlebt. So einen handgeschriebenen Brief habe ich lange nicht erhalten. Jemand antwortet mir heute mal schriftlich auf die Frage „Wie geht es dir? Geht es euch gut?“. Und er schreibt: „Ja – ist meine erste Reaktion. […] Ach und eigentlich geht es auch überhaupt nicht gut.“ Ich lese von gesundem, fröhlichen Nachwuchs, von Alltagsschönheiten wie Brot backen und herzlicher Gemeinschaft mit Nachbarn, aber auch von der Arbeitslosigkeit, der Suche nach einem neuen Job und der Unsicherheit, was die Zukunft, was den eigenen Weg und die Perspektiven angeht.

Der selbe Tag, am Nachmittag, es ist strahlender Sonnenschein, 27 Grad. Vom heftigen Regenschauer des Morgens zeugen nur noch ein paar kleine Pfützen und wenige Wolken am Himmel. Eine kurze Wartezeit beim Dönermann meines Vertrauens überbrücke ich, indem ich die Augen schließe und mir das Gesicht von der Sonne streicheln lasse. Ich singe die erste Strophe von Amazing Grace vor mich hin und muss unverhofft lächeln. Als ich wieder mit dem Rad nach Hause fahre, rieche ich frischen Holunder und Rosen. Beide haben beim Regen am Morgen ein paar ihrer Blüten auf dem Boden gelassen.

Ich muss an die Zeilen aus dem Brief denken – mir geht es gut, und mir geht es nicht gut, beides fast zugleich. An diesen Frühsommertag mit grauem Himmel und mitreißendem Regen, und mit warmen Sonnenstrahlen und Blütenduft. Am Morgen, als der Himmel so verschlossen war, hätte ich mir nicht träumen können, dass dieser Tag noch so schön endet. Meine Regenjacke habe ich umsonst den ganzen Tag mitgeschleppt.

Ich denke daran, was ich in diesem Jahr schon für Glücksmomente erleben durfte, von Raketenfahrten auf Wolke Sieben über stillen Genuss, Liebe verpackt in Worten oder anderen Kleinigkeiten. Glücksmomente voller grandiosem Staunen bis hin zu bauchschmerzendem Gelächter.
Ich denke auch an die Tränen, ganze Sturzbäche, die ich geweint habe in diesem Jahr, an Verantwortung, die mir den Schlaf raubte, an Gedankenwirbelstürme, an schmerzende Worte, und an platzende Luftballons im Traumzauberland.

Und genauso finde ich die Sonnenstrahlen und die Regengüsse im letzten Jahr, und in dem davor und dem davor. Mein Leben steckt voller Gegensätzlichkeiten. Widersprüche des Seins. Die Ambivalenz, die Gleichzeitigkeit von Schönem wie Schweren, ein „mir geht es gut“ und ein „mir geht es nicht gut“, ist manchmal mehr zur einen, manchmal mehr zur anderen Seite ausgelotet. Oft liegt beides auch sehr nah beinander. Manche Gegensätze kommen nicht nur von außen, wie der Regen und die Sonne, sondern auch aus mir selbst. (Ich bin gern mit Menschen zusammen. Aber manchmal brauche ich Zeit für mich allein. Ich schlafe gerne. Trotzdem geh ich selten so früh ins Bett, wie ich eigentlich will.)
Ich muss sie aushalten, diese Gegensätze, kann sie nicht immer auflösen oder mit Worten erklären. Auf dieser Welt wird es sie auch immer beide geben, die sonnigen wie die stürmischen Tage meines Lebens. Offensichtlich gehören diese Widersprüche auch zum Leben des Freundes, dessen Brief ich heute erhielt. Und ich könnte wetten, auch zu deinem?

Für heute geht der Abend geht zur Neige. Ich schaue in den Himmel und sehe keine Sterne. Dafür den Mond, irgendwo zwischen Neumond und Vollmond. Ich denke an die vom peitschenden Regen und Wind auf den Boden gewehten Rosenblätter und Holunderblüten, die für sich selbst etwas unerwartet Schönes hatten. Diesen Eindruck schreibe ich auf und werfe ihn in mein Dankbarkeitsglas.

[04.06.2017]

Lieber Ich-bin-da

Lieber Ich-bin-da,
wo bist du? Ich hätte gern lieber nicht so einen pathetischen Namen, sondern einen Gott zum Anfassen.
Deine Ria

Liebe Ria,
du kannst mich anfassen. Spürst du die Rauheit der Baumrinde und die zarte Babyhaut? Die Struktur der Muschel und das zottelige Schafsfell? Da bin ich. Du kannst mich berühren. Erzähl mir, was dich bewegt, und du berührst mich.
Dein Ich-bin-da

Lieber Ich-bin-da,
ich habe den Baum umarmt und ein neugeborenes Kind, und meine faltige Oma geherzt. Ich hab mich ganz nah ran an den Fuchs getraut und Steine mit Loch an der See gesammelt. Manches davon waren Gänsehautmomente mit Kloß im Hals und ohne Worte. Ich habe Liebe verspürt, Staunen, den zarten Hauch des Besonderen. Aber dich hab nicht nicht gespürt. Oder warst du das? Der Schauer, der mir über den Rücken lief? Wo bist du?
Deine Ria

Liebe Ria,
ich bin da, wo du bist, und warte auf dich. Halte weiter Ausschau nach mir, ruf meinen Namen in den Raum, werde stille. Gerade wenn du diesen Hauch des Besonderen spürst. Wenn du liebst. Wenn du staunst. Dann zücke nicht das Smartphone, um dieses Moment zu teilen, sondern halte inne und atme tief ein. Und wieder aus. Und ein. Und aus. Schau dir den geliebten Menschen an, das endlose Bergpanorama. Mit aller Zeit der Welt.
Und dann suche mich. Und s
uchst du mich in deinem Gegenüber, auf dem alten Kirschbaum und am Meer – dann wirst du sehen: Ich bin da.
Setz einen Wunderblick auf, einen, der durch die Dinge und hinter die Dinge schaut. Weil es nicht nur Dinge sind. Der die Menschen so sehen will, wie sie wirklich sind, und nicht wie wir sie uns denken. Dann und da bin ich da. Ich bin da, wo du bist.
Dein Ich-bin-da

Lieber Ich-bin-da,
ich hatte keinen Zeit, auf den alten Kirschbaum zu klettern, um dich da zu suchen. Es gab so viele andere Sachen, die mich gerade beschäftigen. Und auch das mit dem Hinter-die-Dinge-Schauen finde ich gar nicht so einfach.  Oder vielleicht finde ich auch nur den Fernlicht-Schalter nicht? Heute jedenfalls, bin ich vielfach bewegt.  Die Mutter meiner Freundin ist viel zu jung gestorben ist. Es überfällt mich Traurigkeit, weil gerade einer meiner geheimen Träume im Nebel verschwindet. Es bewegt mich, was ich am Wochenende machen werde. Und dass ich müde bin. Daher Schluss für heute.
Deine Ria

Liebe Ria,
Ich bin da, wo du bist, gerade in den Momenten, die dich bewegen. Du musst ohnehin nichts, kein Kirschbaumklettern und auch nicht Worte finden, wo du sie nicht hast. Aber ich bin da, und ich halte sie aus, auch die verflixten Momente, in denen du manchmal steckst.
Lass uns zusammen aushalten. Das ist nicht leicht. Halte aus in der Ungewissheit deiner Träume. Dem Winternebel begegnet der Frühling erst nur zaghaft, aber dann bricht sich doch das Neue Bahn. Halte aus im Strudel der Möglichkeiten und bleib beim Wesentlichen. Halte aus im Tod. Und wenn du weiterblickst, siehst du Hoffnung, Licht. Halte aus in der Müdigkeit. Es gibt ein neues Morgen.
Dein Ich-bin-da


Lieber Ich-bin-da,
ich bin auch da. Gestern kam nach meinen Tränen (angesichts des Tod und der Träume und einfach allem, was gerade zu viel ist), nach den Tränen kam die Stille. Und ich hab sie ausgehalten. Und ich glaub, da warst du auch. Jedenfalls war dann da Gänsehaut am ganzen Körper. Am Ende hatte ich zwar wieder keine Worte, aber eine sonderbare Art von Frieden. Und plötzlich Lust auf Mangoeis und einen Caipirinha. Es gab nur Vanille und Zitronenlimo, aber ich hab danach geschlafen wie ein Stein.
Ich will es weiter ausprobieren. Ich will mich selbst nicht immer so wichtig nehmen, nicht alles durchplanen und mich von Zeitdruck dressieren lassen. Auch nicht von den Erwartungen oder der Meinung anderer.  Und meinen kleinen inneren Schweinehund werde ich frei lassen. Ich werde es wagen, ich will stille werden und tief einatmen, und ausatmen. Ich will die Wunderblick-Brille tragen und dich genau da suchen, wo ich bin. Irgendwie sieht dir das ähnlich, mein Gott. Du bist der Ich-bin-da, der in der Schönheit wie dem Schmerz meiner Tage DA ist. So nah. Das hätte ich mir nie zu träumen gewagt, Gott nicht im Himmel, sondern bei mir auf dem Balkon. Bis später!
Deine Ria

 

 Mose sagte zu Gott: »Wenn ich nun zu den Leuten von Israel komme und zu ihnen sage: ›Der Gott eurer Vorfahren hat mich zu euch geschickt‹, und sie mich dann fragen: ›Wie ist sein Name?‹ – was soll ich ihnen sagen?«
Gott antwortete: »Ich bin da«.

2. Mose 3, 13-14a