Die Geschichte von Herrn Kurth in der Kirchenbank

Herr Kurth sitzt in der Kirchenbank und schaut auf das zermürbte Holzkreuz. Er klagt Gott sein Leid. „Mein Gott, es ist wieder Karneval. Die Menschen verkleiden sich als Indianer und Burgfräuleins. Wie albern. Gott, und sie lachen und trinken Alkohol und nehmen sich selbst und das Leben gar nicht mehr ernst. Mein Gott, kannst du nicht mal ein Machtwort sprechen? Zwei Meter Neuschnee am Rosenmontag oder Stromausfall, so dass es keinen Narrenball im Fernsehen gibt. Auch noch bei den öffentlich-rechtlichen. Oder Gott, kannst du nicht den Wein in Wasser verwandeln? Die Welt ist so schlecht und es gibt so viele Probleme, wie Unisextoiletten oder Gartenzaunmindestabstände. Da kann man doch nicht wochenlang sich wie kichernde Kinder verhalten. Mein Gott, diese schreckliche, verrückte Welt.“
Herr Kurth will gerade zur nächsten Strophe seines Klagelieds ansetzen, da hört er, wie das Holz übermäßig laut knarzt und plötzlich hat er eine leise Stimme im Ohr. Er pult mit dem kleinen Finger den letzten Ohrenschmalz raus, er versteht sie kaum.
„Lachen, lieber Herr Kurth, habe ich den Menschen geschenkt, damit sie gesund werden. Die Menschen kranken an so vielen Dingen. Deshalb habe ich es auch extra ansteckend gemacht, damit die Gesundung möglichst rasch um sich greift. Und bei dir ist es wirklich schwer, aber wie kann ich dich zum Lachen bringen?“
„Lieber Gott, ich habe so lange nicht gelacht.“ sagt Herr Kurth. „Zuletzt vielleicht mit fünf, als es an meinem Geburtstag Konfetti regnete. Alle Papierschnipsel aus dem Bürolocher meines Vaters. Herrlich!“ Ein Lächeln zieht über sein Gesicht.
„Gut“ sagt Gott, und wer ihn sehen könnte, sähe, dass er auch er lächelt. „Dann lasse ich jetzt eine Konfettibombe in deinem Kopf platzen.“
Herr Kurth schüttelt den Kopf. Wie albern. Und das hier in der Kirchenbank. Das meint der Gott doch nicht ernst. Er setzt wieder an etwas zu sagen, da kitzelt es ihn im Ohr. Er kratzt sich, und popelt kurz, doch diesmal kommt kein Ohrenschmalz, sondern ein Schwall buntes Konfetti. Es juckt ihn noch mehr und plötzlich muss er niesen. Noch mehr buntes Konfetti kommt aus seiner Nase und gleitet wild durcheinander zum kalten Kirchenboden.
Er schüttelt nochmals den Kopf und überall fliegt das Konfetti aus seinen Ohren und den Nasenlöchern herum. Da muss Herr Kurth lauthals loslachen, er schüttelt sich vor Lachen und sieht immer mehr Konfetti überall. Überall! Mein Gott!

 

Post für mich

Heute gibt es Post. Post für mich. Das war zuletzt im Februar der Fall gewesen, als die Nebenkostenabrechnung kam. Sonst bekomme ich nie Post. Die Werbung zählt natürlich nicht, die wird auch ohnehin nur zum Bett für den Biomüll.
Heute gibt es Post, nicht nur einen kleinen, dünnen Umschlag, sondern einen von diesen großen, braunen mit den Luftpolsterkreisen zum Platzenlassen. Schon bei der Vorstellung daran, gleich ein Plopp-Popp-Konzert geben zu können, muss ich grinsen. Dann beäuge ich den großen Umschlag näher. Meine Adresse ist auf ein Etikett gedruckt, fein säuberlich. Als Absender steht da nur handschriftlich E.F. Ich beschnuppere den Umschlag, weil mir das alles ein wenig merkwürdig vorkommt. Er riecht nach Pferden und Schweiß, finde ich, irgendwie Bauernhof. Passt jedenfalls weder zu mir noch zu dieser Stadt. Vorsichtig befühle ich den Umschlag. Irgendetwas Größeres steckt da drin, und leicht spitzes, nicht ganz rundes. Also kein Buch oder  keine DVD. Hätte sonst ja auch sein können, dass eine fehlgeleitete Onlinebestellung da drinsteckt. Ich bestelle nie online. Nicht weil ich die Firmenpolitik von Amazon blöd finde, die ist mir ziemlich schnuppe, sondern weil ich online nichts sammeln kann. Keine Payback-Punkte, sondern Details für mein Verkäuferalbum sammeln.
Ich kenne jede Verkäuferin und jeden Verkäufer in meinem Viertel, angefangen bei der dicken Frau Zinndorf in der Buchhandlung bis hin zum schlacksigen jungen Bäckerssohn in der Konditorei Fritz. Heimlich habe ich von jedem ein Foto gemacht, mit dem Handy ist das unbemerkt gar kein Problem. Die Fotos habe ich alle in ein Album geklebt und jetzt sammle ich Details. Die Brille von Frau Zinndorf ist lila und von Fielmann. Von Herrn Müller von der Weinhandlung mit dem langen Zopf habe ich einmal ein dunkles Haar in einem der Regale entdeckt. Frau Lang vom Edeka ist mal einer ihrer künstlichen türkisen Nägel mit Kätzchen drauf abgebrochen, und als ich ein 1-Euro-Stück fallen lies, konnte ich ihn ungesehen aufheben. Jetzt klebt er neben ihrem Bild und einigen Sätzen zu ihrer Vorliebe für gestreifte Blusen und ihrer kleinen kahlen Stelle hinter dem linken Ohr, die sie immer zu verbergen sucht.
Online bestellen geht für mich also gar nicht, aber eine falsch adressierte Sendung eines anderen Kunden scheint dies also auch nicht zu sein. Das Etwas in dem Umschlag scheint aus verschiedenen Schichten zu bestehen, jedenfalls gibt es einen Teil, der sich höher abzeichnet als der Rest, der eher quadratisch ist. Ein wenig knistert es auch, also ist vielleicht auch eine Nachricht mit drin? Oder eine Rechnung. Man kann ja heute nicht nur Bücher und DVDs online bestellen, sondern auch Zahnbürsten oder Zitronen. Oder das Knistern ist doch einfach nur vom Popp-Plastik.
Ich ziehe mein großes Küchenmesser aus der Schublade und öffne den Umschlag. Mir fällt ein kleines Radio entgegen und ein Zettel, auf dem in kleinen gedrungen Buchstaben eine Zahlenkombination steht: 106.5.87.4.88.9.111.2.

[Textfragment entstanden auf dem Benediktshof] – Habt ihr Lust auf eine Fortsetzung?

Wunder dich

Wunder dich. Nimm nicht alles als gegeben hin. Schau hinter Fassaden und unter Schränke. Frag dich, warum das Centstück klebrig ist. Oder der Busfahrer heute lila trägt.

Wunder dich. Das ist wie ein sich-um-die-eigene-Achse-drehen, das kein um-sich-selbst-drehen ist, sondern ein Karussell mit Blick auf die Welt. Ich wundere mich. Da steck das Wunder mitten in mir, vor mir, hinter mir. Vielleicht auch über mir: Wolken sind Wunderbringer, und Sterne auch. Manchmal ist das Wunder in diesen grünblauen Augen. Oder der einen, dicken Falte in dem traurigen Gesicht. Dem erhabenen Leberfleck. Oder der Marmelade im Auge.

Wunder dich. Was du bewunderst, dich verwundert, was du wunderst, das zählt. Nicht wie man eins und eins zusammenzählt, sondern wie man Hängemattentage zählt. Oder Regenbogenstunden. Oder die Geburtstagsbriefe. Und die Stille.

Wunder dich. Warum Menschen Müllmänner werden, oder Pegidaanhänger. Warum du noch nie auf der Stadtmauer spaziert bist oder durch die Saale geschwommen. Sich wundern heißt den Stern auf dem Misthaufen zu betrachten. Und nach mehr Sternen zu suchen, auch wenn es nach Pferdeäpfeln stinkt. Sich wundern heißt ein schnelles im-Kreis-drehen bis alles schwindelig ist – und du etwas Neues, etwas Wundervolles siehst!

[Morgenseiten, Benediktshof, 19.02.2017]