Was weinst du?

Er fragt mich:
Was weinst du?

Und ich will antworten:

Ein hartes Urteil
ein liebloses Wort
und
mein hartes Urteil
mein liebloses Wort.

Das verlorene Kind
eine verletzte Liebe
ein verflogener Traum.

Und er fragt mich nochmal:
Was weinst du?

Und ich
verstehe immer noch
nicht
will weinend weiter zählen
und erzählen:

Die schmerzvolle Krankheit
ein drohender Abschied
der unabwendbare Tod.

Und unsere Gleichgültigkeit
das Tränengas,
der Terror.

Und er
ER
ruft mich
bei
meinem Namen.

Und meine Tränen
versiegen
meine Stimme
zittert

und ich bin
ganz kurz
versucht
zu sagen:

Wo warst du?
Als K. starb
und in Syrien
und letztes Jahr am 13. April
und vorhin,
als ich dich suchte.

Warum hast du dich
nicht gleich
zu erkennen gegeben –
ich habe dich
für den Gärtner
gehalten.

Warum
will ich fragen
ich verstehe
manchmal
diese gebrochene Welt
und dich
und das Leid
nicht.

Aber
ich kann nichts
sagen
noch fragen.

An diesem Morgen
höre ich
zärtlich
meinen Namen
aus seinem Mund
sehe ich
leuchtend
das Angesicht
des Auferstandenen
spüre ich
mit allen Sinnen
das Leben

und ich antworte

Rabbuni –
mein Meister!

Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!
                                                                                                             
– Johannes 20, 15 – 16

Ich will leben

Heute
und jetzt
will ich leben
in diesem Jahr
in der Gegenwart.

Und da ist Gott:
gegenwärtig.

 

Frei
und hoffnungsvoll
will ich leben
in diesem Jahr
im Vertrauen.

Und da ist Gott:
verheißungsvoll.

 

Liebevoll
und zugewandt
will ich leben
in diesem Jahr
für mein Gegenüber.

Und da ist Gott:
in der Begegnung.

 

Dankbar
und gelöst
will ich leben
in diesem Jahr
im Frieden.

Und da ist Gott:
schenkt Segen.

 

Authentisch
und gnädig
will ich leben
in diesem Jahr
im Schweren.

Und da ist Gott:
da.

 

Vergnügt
und intensiv
will ich leben
in diesem Jahr
mit allen Sinnen.

Und da ist Gott:
mitten im Leben.

 

 

Fürchte dich nicht

Inmitten in diese Nacht
die nicht romantisch ist
sondern dunkel
voller Bangen und
Alltagssorgen

Inmitten in diese
ungerechte Welt
in der es immer noch
narzisstische Herrscher gibt
und hart arbeitende Hirten

Inmitten dieser Nacht
inmitten dieser Welt
wird ein Kind geboren
blutverschmiert
es schreit
es atmet
es saugt
es schaut
es greift
es schläft ein
ein Lächeln auf den Lippen

Inmitten dieser Nacht
erzählen die Engel
von diesem Kind
von einem Wunder
von großer Freude
und neuem Leben
und einem großen Gott
von Frieden auf Erden
und Unmöglichem
das möglich wird

Sie rufen dir und mir zu:
Fürchte dich nicht
vor dem Bösen dieser Welt
fürchte dich nicht
vor dem Versagen
und vor dem Vergleichen
fürchte dich nicht
vor dem neuen Jahr
und dass du nicht genug bist
fürchte dich nicht
vor Verlust und Schmerz
und der Dunkelheit

Dieses Kind ist
ein Wunder
des Lebens
und der Liebe
gewachsen und
im Wachstum
Tag für Tag

Inmitten dieser Nacht
wurde es laut
als dieses Kind geboren wurde
(es war bestimmt keine
stille Nacht)
es wurde Licht
und es wird licht
Frieden und Freude
sind Verheißung

Halte einfach
das Kind im Arm
und staune
über
neugeborenes Leben
und neugeborene Hoffnung
Halte es auch aus
wenn es schreit
Es ist
dein Erlöser
Halleluja!

 

Bürostuhl gegen Schaukel

Heute
tausche ich:
Bürostuhl gegen Schaukel
Stirnfalte gegen Lachanfall
Kaffee gegen Himbeerbrause
Gewohnheit gegen Abenteuer
Strumpfhose gegen Ringelsocken
Zweifel gegen Vertrauen.

schaukel

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen,
dass wir Gottes Kinder heißen sollen –
und wir sind es auch!
– 1. Johannes 3, 1

Erdbeben

Kürzlich
gab es in meinem Kopf
ein Erdbeben
Stärke 8 auf der Richter-Skala.
Noch viel mehr
gebebt
hat mein Herz.
Es hat dabei
völlig aus dem Takt
geblutet.

Zerbrochen und zerfallen
sind Traumgebäude.
Zerrüttet und zerstört
die ganze
Planwirtschaft.

Überall Chaos
kein Gedanke auf
gewohnter Bahn.
Die Nerven blank.
Matschstraßen,
mal Schlitterbahn.
Wie ein Sturzbach
die Tränen.

Es war ein
Donnerstag
der Tag, an dem
der Donner
in meinem Kopf
unter der Oberfläche wütete
und die Erde bebte
den Boden unter meinen Füßen
wegriss
und ein schmerzhafter Blitz
mir mitten ins Herz
einschlug.

Heute ist Montag.
Einige Wochen später.
Ich bin immer noch
am Aufräumen.
Schutter hier, Schotter da.
Große, neue Schneisen
im Wald der Wichtigkeiten.
Immer mal wieder ein
Nachbeben.

Als ich mit viel Kraft
ein paar der Trümmer
zur Seite stemmte
um wieder
atmen
zu können
versiegten langsam
die Tränen
und ich sah:
den Himmel.

Da war jemand
der mit den Sonnenstrahlen
sachte
ganz zärtlich
mein Gesicht streichelte.
Ich spürte
Seinen Geist
in der frischen Luft.

Und dann
habe ich vorsichtig
einen Schritt
in die Luft
gemacht.
Und sie trug!

Ich setzte einen Fuß in die Luft und sie trug.  – Hilde Domin

[22.05.2017]

Lieber Ich-bin-da

Lieber Ich-bin-da,
wo bist du? Ich hätte gern lieber nicht so einen pathetischen Namen, sondern einen Gott zum Anfassen.
Deine Ria

Liebe Ria,
du kannst mich anfassen. Spürst du die Rauheit der Baumrinde und die zarte Babyhaut? Die Struktur der Muschel und das zottelige Schafsfell? Da bin ich. Du kannst mich berühren. Erzähl mir, was dich bewegt, und du berührst mich.
Dein Ich-bin-da

Lieber Ich-bin-da,
ich habe den Baum umarmt und ein neugeborenes Kind, und meine faltige Oma geherzt. Ich hab mich ganz nah ran an den Fuchs getraut und Steine mit Loch an der See gesammelt. Manches davon waren Gänsehautmomente mit Kloß im Hals und ohne Worte. Ich habe Liebe verspürt, Staunen, den zarten Hauch des Besonderen. Aber dich hab nicht nicht gespürt. Oder warst du das? Der Schauer, der mir über den Rücken lief? Wo bist du?
Deine Ria

Liebe Ria,
ich bin da, wo du bist, und warte auf dich. Halte weiter Ausschau nach mir, ruf meinen Namen in den Raum, werde stille. Gerade wenn du diesen Hauch des Besonderen spürst. Wenn du liebst. Wenn du staunst. Dann zücke nicht das Smartphone, um dieses Moment zu teilen, sondern halte inne und atme tief ein. Und wieder aus. Und ein. Und aus. Schau dir den geliebten Menschen an, das endlose Bergpanorama. Mit aller Zeit der Welt.
Und dann suche mich. Und s
uchst du mich in deinem Gegenüber, auf dem alten Kirschbaum und am Meer – dann wirst du sehen: Ich bin da.
Setz einen Wunderblick auf, einen, der durch die Dinge und hinter die Dinge schaut. Weil es nicht nur Dinge sind. Der die Menschen so sehen will, wie sie wirklich sind, und nicht wie wir sie uns denken. Dann und da bin ich da. Ich bin da, wo du bist.
Dein Ich-bin-da

Lieber Ich-bin-da,
ich hatte keinen Zeit, auf den alten Kirschbaum zu klettern, um dich da zu suchen. Es gab so viele andere Sachen, die mich gerade beschäftigen. Und auch das mit dem Hinter-die-Dinge-Schauen finde ich gar nicht so einfach.  Oder vielleicht finde ich auch nur den Fernlicht-Schalter nicht? Heute jedenfalls, bin ich vielfach bewegt.  Die Mutter meiner Freundin ist viel zu jung gestorben ist. Es überfällt mich Traurigkeit, weil gerade einer meiner geheimen Träume im Nebel verschwindet. Es bewegt mich, was ich am Wochenende machen werde. Und dass ich müde bin. Daher Schluss für heute.
Deine Ria

Liebe Ria,
Ich bin da, wo du bist, gerade in den Momenten, die dich bewegen. Du musst ohnehin nichts, kein Kirschbaumklettern und auch nicht Worte finden, wo du sie nicht hast. Aber ich bin da, und ich halte sie aus, auch die verflixten Momente, in denen du manchmal steckst.
Lass uns zusammen aushalten. Das ist nicht leicht. Halte aus in der Ungewissheit deiner Träume. Dem Winternebel begegnet der Frühling erst nur zaghaft, aber dann bricht sich doch das Neue Bahn. Halte aus im Strudel der Möglichkeiten und bleib beim Wesentlichen. Halte aus im Tod. Und wenn du weiterblickst, siehst du Hoffnung, Licht. Halte aus in der Müdigkeit. Es gibt ein neues Morgen.
Dein Ich-bin-da


Lieber Ich-bin-da,
ich bin auch da. Gestern kam nach meinen Tränen (angesichts des Tod und der Träume und einfach allem, was gerade zu viel ist), nach den Tränen kam die Stille. Und ich hab sie ausgehalten. Und ich glaub, da warst du auch. Jedenfalls war dann da Gänsehaut am ganzen Körper. Am Ende hatte ich zwar wieder keine Worte, aber eine sonderbare Art von Frieden. Und plötzlich Lust auf Mangoeis und einen Caipirinha. Es gab nur Vanille und Zitronenlimo, aber ich hab danach geschlafen wie ein Stein.
Ich will es weiter ausprobieren. Ich will mich selbst nicht immer so wichtig nehmen, nicht alles durchplanen und mich von Zeitdruck dressieren lassen. Auch nicht von den Erwartungen oder der Meinung anderer.  Und meinen kleinen inneren Schweinehund werde ich frei lassen. Ich werde es wagen, ich will stille werden und tief einatmen, und ausatmen. Ich will die Wunderblick-Brille tragen und dich genau da suchen, wo ich bin. Irgendwie sieht dir das ähnlich, mein Gott. Du bist der Ich-bin-da, der in der Schönheit wie dem Schmerz meiner Tage DA ist. So nah. Das hätte ich mir nie zu träumen gewagt, Gott nicht im Himmel, sondern bei mir auf dem Balkon. Bis später!
Deine Ria

 

 Mose sagte zu Gott: »Wenn ich nun zu den Leuten von Israel komme und zu ihnen sage: ›Der Gott eurer Vorfahren hat mich zu euch geschickt‹, und sie mich dann fragen: ›Wie ist sein Name?‹ – was soll ich ihnen sagen?«
Gott antwortete: »Ich bin da«.

2. Mose 3, 13-14a

 

 

Die Geschichte von Herrn Kurth in der Kirchenbank

Herr Kurth sitzt in der Kirchenbank und schaut auf das zermürbte Holzkreuz. Er klagt Gott sein Leid. „Mein Gott, es ist wieder Karneval. Die Menschen verkleiden sich als Indianer und Burgfräuleins. Wie albern. Gott, und sie lachen und trinken Alkohol und nehmen sich selbst und das Leben gar nicht mehr ernst. Mein Gott, kannst du nicht mal ein Machtwort sprechen? Zwei Meter Neuschnee am Rosenmontag oder Stromausfall, so dass es keinen Narrenball im Fernsehen gibt. Auch noch bei den öffentlich-rechtlichen. Oder Gott, kannst du nicht den Wein in Wasser verwandeln? Die Welt ist so schlecht und es gibt so viele Probleme, wie Unisextoiletten oder Gartenzaunmindestabstände. Da kann man doch nicht wochenlang sich wie kichernde Kinder verhalten. Mein Gott, diese schreckliche, verrückte Welt.“
Herr Kurth will gerade zur nächsten Strophe seines Klagelieds ansetzen, da hört er, wie das Holz übermäßig laut knarzt und plötzlich hat er eine leise Stimme im Ohr. Er pult mit dem kleinen Finger den letzten Ohrenschmalz raus, er versteht sie kaum.
„Lachen, lieber Herr Kurth, habe ich den Menschen geschenkt, damit sie gesund werden. Die Menschen kranken an so vielen Dingen. Deshalb habe ich es auch extra ansteckend gemacht, damit die Gesundung möglichst rasch um sich greift. Und bei dir ist es wirklich schwer, aber wie kann ich dich zum Lachen bringen?“
„Lieber Gott, ich habe so lange nicht gelacht.“ sagt Herr Kurth. „Zuletzt vielleicht mit fünf, als es an meinem Geburtstag Konfetti regnete. Alle Papierschnipsel aus dem Bürolocher meines Vaters. Herrlich!“ Ein Lächeln zieht über sein Gesicht.
„Gut“ sagt Gott, und wer ihn sehen könnte, sähe, dass er auch er lächelt. „Dann lasse ich jetzt eine Konfettibombe in deinem Kopf platzen.“
Herr Kurth schüttelt den Kopf. Wie albern. Und das hier in der Kirchenbank. Das meint der Gott doch nicht ernst. Er setzt wieder an etwas zu sagen, da kitzelt es ihn im Ohr. Er kratzt sich, und popelt kurz, doch diesmal kommt kein Ohrenschmalz, sondern ein Schwall buntes Konfetti. Es juckt ihn noch mehr und plötzlich muss er niesen. Noch mehr buntes Konfetti kommt aus seiner Nase und gleitet wild durcheinander zum kalten Kirchenboden.
Er schüttelt nochmals den Kopf und überall fliegt das Konfetti aus seinen Ohren und den Nasenlöchern herum. Da muss Herr Kurth lauthals loslachen, er schüttelt sich vor Lachen und sieht immer mehr Konfetti überall. Überall! Mein Gott!