Wortblüten

Wortblüten

Schreib
oder sprich
doch heute

ein Wort
eine Zeile

bewusst
liebevoll
adressiert
an jemandem
um dich herum

egal an wen
alt oder jung
glücklich oder bedrückt.


Wir alle
blühen
von Kindesbeinen an
aus den Worten
aus den Zeilen
die uns
zugesprochen
werden.


Worte, die tropfen
benetzen
uns durchdringen
verwurzeln
erfrischen.

Zeilen, die strahlen
die locken
die uns färben
empor ziehen
bewegen.


Es sind die Worte
– deine Worte –
für jemanden.
Meine Worte
– für jemanden –

die in uns zur Blüte kommen
Schalen durchbrechen
zum Licht ziehen
und
uns helfen
zu blühen.

Alltagsauferstehungen

Frühblüher

Etwas verloren Geglaubtes wiederfinden

Nach erholsamem Schlaf ohne Wecker erwachen und sich frisch fühlen

Nachlassende Lähmung, Ohnmacht, Schmerz

Das Feiern der Deadline (endlich fertig und wieder im Leben!)

Gott neu entdecken, der so lange verborgen schien

Blumen, die dem Beton trotzen

Das Aufwachen nach einer Operation

Ein freies Wochenende

Ein Wiedersehen nach langer Trennung

Der erste Sonnentag nach einer Woche voll Grau und Regen

Die Umarmung nach einer versöhnlichen Aussprache

Eine Verdachtsdiagnose, die sich nicht bestätigt (mein malignes Melanom)

Morgendämmerungen

Was weinst du?

Er fragt mich:
Was weinst du?

Und ich will antworten:

Ein hartes Urteil
ein liebloses Wort
und
mein hartes Urteil
mein liebloses Wort.

Das verlorene Kind
eine verletzte Liebe
ein verflogener Traum.

Und er fragt mich nochmal:
Was weinst du?

Und ich
verstehe immer noch
nicht
will weinend weiter zählen
und erzählen:

Die schmerzvolle Krankheit
ein drohender Abschied
der unabwendbare Tod.

Und unsere Gleichgültigkeit
das Tränengas,
der Terror.

Und er
ER
ruft mich
bei
meinem Namen.

Und meine Tränen
versiegen
meine Stimme
zittert

und ich bin
ganz kurz
versucht
zu sagen:

Wo warst du?
Als K. starb
und in Syrien
und letztes Jahr am 13. April
und vorhin,
als ich dich suchte.

Warum hast du dich
nicht gleich
zu erkennen gegeben –
ich habe dich
für den Gärtner
gehalten.

Warum
will ich fragen
ich verstehe
manchmal
diese gebrochene Welt
und dich
und das Leid
nicht.

Aber
ich kann nichts
sagen
noch fragen.

An diesem Morgen
höre ich
zärtlich
meinen Namen
aus seinem Mund
sehe ich
leuchtend
das Angesicht
des Auferstandenen
spüre ich
mit allen Sinnen
das Leben

und ich antworte

Rabbuni –
mein Meister!

Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!
                                                                                                             
– Johannes 20, 15 – 16

Vergnügungen

  • warme Wollsocken
  • ein Dachschrägenfenster, das nur den Himmel zeigt
  • mein Tattoo auf dem Unterarm (auch wenn es nicht für immer ist)
  • rote Lippen
  • Zartbitter-Walnuss- und Mandelaufstrich
  • Stille
  • graue Spitzenunterwäsche (und die Erkenntnis, dass das kein Widerspruch ist)
  • bunte Bilder, dicke Buchstaben und verheißungsvoll weißes Papier
  • kalte Wasserspritzer
  • Traumfetzen, die nach Frühling schmecken

Bobbycar-Ermutigung

Als ich vor einiger Zeit bei lieben Freunden ins Wohnzimmer kam und einen schwarzen Bobbycar mit weißem Puppenwagen-Anhänger sah, musste ich schmunzeln:

IMG_20171114_195048

Meine Nichte Maya hatte zu ihrem Geburtstag fast die selbe Konstruktion gebaut und mich damit zum Nachdenken angeregt (nachzulesen hier: Von Maya, Mut und Möglichkeiten).

Die beiden Mädels die hier mit glitzerndem Geschenkband dafür gesorgt haben, dass der Teddy im Anhänger hinter dem Bobbycar herkommt, waren zu Mayas Geburtstag nicht dabei, sondern hatten offenbar selbst eine ähnliche Idee.
Ich musste nicht nur schmunzeln, ich konnte nicht umhin, ein Foto von diesem tollen Gespann zu machen.

Denn dieser Anblick war ein Fest für meinen Möglichkeitssinn! Es war eine heitere, ungebetene Ermutigung, dass ich auf der richtigen Spur bin mit meiner Suche nach anderen, ungewohnten und ungekannten Wegen und dem Versuch nicht gleich „geht nicht“ zu sagen, sondern erstmal meine Gedanken und Ideen, und auch Gegensätzliches oder scheinbar „Unmögliches“ zuzulassen und daran anzuknüpfen.

Und wenn ich mir jetzt meine Alltags-Mut-und-Möglichkeiten-Liste vom September anschaue, dann freue ich mich, dass ich einige Dinge auch tatsächlich in die Tat umgesetzt habe:
Aus dem Tanzkurs ist zwar nichts geworden, aber dafür gab es ein fröhliches Wiedersehen mit meinen alten Freunden. Die unmöglich scheinende Terminfindung hat sich ganz kurzfristig gelöst, als die beiden dann einfach spontan um den 3. Oktober zu mir gekommen sind.
Auf eine Anfrage, ob ich eine bestimmte Sache tut könnte, habe ich mit einem klaren „Nein“ geantwortet und gemerkt, dass das gar nicht so Wellen geschlagen hat, wie ich zunächst vermutet hatte.
Als ich einem älteren fremden Herrn in der Nachbarschaft sagte, wie beeindruckend ich seine übermannesgroßen strahlend leuchtenden Sonnenblumen finde, strahlte er nicht weniger und erzählte mir gleich eine Geschichte dazu, wie deren Samen zu ihm kamen. Seine Freude über das Kompliment und sein Stolz auf seine Blumen erfreuten mich gleich mit (und erinnerten mich an unerwartete Komplimente von Fremden, die mich teilweise überrascht und beschwingt haben).
Mein Handy ging an einem Wochenende im Oktober plötzlich kaputt und ich war somit nicht nur ein Wochenende, sondern sogar noch länger ohne. Das nervte mich anfangs ehrlich gesagt ziemlich, aber die fehlende Ablenkung habe ich manchmal vermisst, seit das neue Handy in Betrieb ist.
Und ich habe endlich den unbekannten Nachbarn, die mich mit ihren Kerzen und Blumen zum Lächeln bringen im November eine kleine Karte hinterlassen – und zu Weihnachten von zweien ganz herzliche, erfreute Grüße zurück bekommen.

All das sind keine großen oder revolutionären Aktionen, aber Alltagsdinge, die mich ein bisschen Mut und Zeit, Überwindung und Einsatz gekostet haben („geht nicht“ zu sagen wäre meist leichter gewesen). Für diese Möglichkeiten musste ich mich entscheiden.
So manches kleine Projekt von der Liste lief anders als gedacht (oder auch gar nicht) – aber hier schließt sich ein Kreis: Denn letztlich ist genau das „anders als gedacht“ ja Bestandteil des Möglichkeitssinnes und ein Teil dessen, was ich auch weiterhin erspüren will: dass und wie es auch anders sein könnte, dass unzählige Möglichkeiten und das wunderbare Leben auf mich warten.

Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Macht euch nur von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein.
Christian Morgenstern

 

Was mich vergnügt

In ein schönes Geheimnis eingeweiht zu sein. Jemandem zuzulächeln. Wenn das Lächeln erwidert wird. Kindermund. Eine Himbeere auf der Zunge zergehen zu lassen. Kettenkarussel fahren. Von wilden Wellen getragen zu werden. Eine Vorahnung, die sich bestätigt. Teig schlecken. Bunte Kleidung. Mitreisende Musik (besonders an ungewöhnlichen Orten). Nur einen kleinen Schluck Wein zu trinken und mich doch schon beschwingt zu fühlen. Situationskomik. Wenn es etwas zwischen den Zeilen zu lesen gibt. Wilde Küsse. Unverhofft Geld in einer alten Hose zu finden. Wolkentiere. Eine zündende Idee. Schneeflocken mit der Zunge aufzufangen. Wenn mein Lachen so viel Luft aufwirbelt, dass Papierschnipsel plötzlich über den Tisch fliegen. Vorfreude. Mit jemandem heimlich über Blicke zu kommunizieren. Leute zu verblüffen. Fröhlich der Wettervorhersage zu trotzen. Die Verzückung frisch gebackener Eltern.

Erdbeben

Kürzlich
gab es in meinem Kopf
ein Erdbeben
Stärke 8 auf der Richter-Skala.
Noch viel mehr
gebebt
hat mein Herz.
Es hat dabei
völlig aus dem Takt
geblutet.

Zerbrochen und zerfallen
sind Traumgebäude.
Zerrüttet und zerstört
die ganze
Planwirtschaft.

Überall Chaos
kein Gedanke auf
gewohnter Bahn.
Die Nerven blank.
Matschstraßen,
mal Schlitterbahn.
Wie ein Sturzbach
die Tränen.

Es war ein
Donnerstag
der Tag, an dem
der Donner
in meinem Kopf
unter der Oberfläche wütete
und die Erde bebte
den Boden unter meinen Füßen
wegriss
und ein schmerzhafter Blitz
mir mitten ins Herz
einschlug.

Heute ist Montag.
Einige Wochen später.
Ich bin immer noch
am Aufräumen.
Schutter hier, Schotter da.
Große, neue Schneisen
im Wald der Wichtigkeiten.
Immer mal wieder ein
Nachbeben.

Als ich mit viel Kraft
ein paar der Trümmer
zur Seite stemmte
um wieder
atmen
zu können
versiegten langsam
die Tränen
und ich sah:
den Himmel.

Da war jemand
der mit den Sonnenstrahlen
sachte
ganz zärtlich
mein Gesicht streichelte.
Ich spürte
Seinen Geist
in der frischen Luft.

Und dann
habe ich vorsichtig
einen Schritt
in die Luft
gemacht.
Und sie trug!

Ich setzte einen Fuß in die Luft und sie trug.  – Hilde Domin

[22.05.2017]

Vom Sein

Vom Sein

Gut Ding
will Weile
haben

von Eile
kommen
keine
guten
Gaben

Wasser
aus dem Fluss
schöpfen
überm Feuer
kochen

all dies
braucht Zeit
genug Geduld
Beständigkeit
bisweilen.

Und dann
ist man
einfach da

wartet bis der
Eimer sich füllt
das Wasser
heiß wird
die Sonne
wieder aufgeht

Und wir?
Haben wir
verlernt
zu ruhn,
zu sein,
vor lauter Haben?

Hat die
Annehmlichkeit
unser Sein
begraben?

Hier gehts
ums Da-Sein
tag aus
tag ein.

Und morgen?
Werden wir sein
Werden wir sehen.

[Tansania, Sommer 2011]

1-jan.jpg